Özlem Nas Schura Hamburg

Faces for the Names – Redebeitrag von Özlem Nas am 02.11.2021

„Geh zurück in deine Heimat!“ – „Woher kommst du?“ – „Du sprichst aber gut deutsch!“

Habt ihr das auch schon mal gehört? Oder gehört ihr zu denen, die als „normal“, als zur „Wir-Gruppe zugehörig“ betrachtet werden und nicht in die Situation kommen, ihre Herkunft, ihre Religion, ihr „Anderssein“ erklären zu müssen? Und wenn dem so ist? Seid ihr euch diesem Privileg bewusst? Setzt ihr es aktiv ein?

Aussagen wie: „Geh zurück in deine Heimat!“ und Fragen wie: „Woher kommst du?“ sind ein Spiegelbild von Haltung und Grundannahmen. Sie gehören zur Lebenswelt von BIPoc‘s– sie zeigen auf, dass „das konstruierte Andere“ als nicht zum „homogenen Wir“ dazugehörig betrachtet wird.

„Geh zurück in deine Heimat!“, rief mir ein Mann auf der Straße in der Innenstadt hinterher. Er wusste scheinbar genau wo das war, er gehörte zu der Dominanzgesellschaft und die hat dann ja wohl die Definitionsmacht darüber, wo die Heimat von BIPoc’s ist, oder wie BIPoc’s, wie ich es bin, sich kleiden, wo sie arbeiten, wo sie wohnen, was sie essen, wie sie leben sollten…

Ich war etwa 11 Jahre alt und wartete am Bahnhof Altona auf die Bahn, als mich eine ältere Frau anspuckte und „Scheiß Ausländer!“ rief.

Ich war etwa 13, als eine Frau auf der Straße beim Vorbeigehen mit einem Karton auf meine Mutter einschlug und „Scheiß Türkin!“ rief.

Ich war etwa 21, als in der Innenstadt plötzlich eine ältere Frau mir hinterherrief: „Sie kommen in die Hölle!“

Im Anschluss an eine TV-Sendung von Peter Hahne im ZDF, in der ich gemeinsam mit Matthias Matussek zu Gast war, sagte er nach dem Dreh zu mir: „Ich gebe ihnen lieber nicht die Hand, vielleicht haben sie ja einen Sprengstoffgürtel um!“ und lachte dabei herzlich.

Vier Beispiele von mannigfaltigen Erlebnissen. Ich könnte weiter machen mit persönlichen Rassismus Erfahrungen und noch einiges hinzufügen, was meine Kinder, Freunde, Verwandten und Bekannte oder Mitglieder aus der Schura zugehörigen Gemeinden erlebt haben, doch ich denke es ist verständlich geworden:

Rassismus ist Teil unserer Lebenswelt, in Vergangenheit, Gegenwart und sicher auch in Zukunft: Wenn wir nicht so aussehen, so heißen, so glauben, so leben, so lachen, so essen, so feiern…. wie Rassisten es gerne hätten. Wenn unser authentisches Selbst nicht in ihre Schubladen passt. Rassismus hat viele Gesichter und Erscheinungsformen. Rassismus grenzt aus, Rassismus gefährdet Existenzen, Rassismus verletzt, Rassismus erzeugt Traumata, Rassismus tötet.

Gemeinsam mit dem Landesrabbiner Shlomo Bistritzky, mit dem wir auch heute erneut Seite an Seite einstehen für Antirassismus, waren wir in der Holocaust Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem- das Leid der Jüdinnen und Juden, das Leid der Kinder, der Schmerz, die Qual, der Tod – ist wie ein tiefer Stich ins vor Schrecken und Trauer pochende Herz – wie ein stummer Schrei, ein Aufschrei, vor dem sich noch viel zu viele Ohren verschließen, ein „Nie wieder!“ Ein „Nie wieder!“, das bedeuten muss: Erinnern und Verantwortung übernehmen – in einem Atemzug. Aktiv werden und sich einsetzen, wenn man Zeugin oder Zeuge von Rassismus wird. Hanau, Halle, Mölln, Solingen, Hoyerswerda, Rostock-Lichtenhagen, der Mord an Marwa el Sherbini, der NSU Komplex, – alle rechtsterroristischen Gewalttaten rufen laut: Nicht wegsehen! Nicht Schweigen! Sondern beistehen und laut werden! Rassismus ernährt sich von einer schweigenden Mehrheit, legitimiert sich und macht sich in der Mitte der Gesellschaft breit. Antirassismus braucht eine laute, eine mutige, eine solidarische Mehrheit!

Antirassist*in zu sein bedeutet, sich aktiv gegen Rassismus einzusetzen. Die Stimme zu erheben. Die Möglichkeiten als zur privilegierten Gruppe zugehörige Person auszuschöpfen. Die Vergangenheit nicht zu vergessen und Verantwortung zu übernehmen für die Gegenwart und Zukunft. Rassismus darf nicht das stumm geduldete „Normal“ derjenigen Menschen sein, die als „Anders“ markiert, – und als nicht gleichwertig betrachtet und behandelt werden.

Um eine solidarische und freie Gesellschaft zu stärken, brauchen wir neben dem Wissen über Formen und Folgen von Rassismus auch die Empathie für die Opfer rassistischer Gewalt und ihre Angehörigen. Im Rahmen des bundesweiten Projekts Kein Schlussstrich!, – zum NSU-Komplex, -haben Opfer und Angehörige des rechtsterroristischen Brandanschlags in Mölln und des Nagelbombenanschlags in Köln geäußert, „dass sie nicht instrumentalisiert werden wollen für eine Gedenkkultur, die lediglich eine Show für die Medien ist“. Wie kann es sein, dass es Gedenkveranstaltungen gibt, bei denen die Opfer und Angehörigen nicht mit einbezogen werden, so dass diese gar nicht erst daran teilnehmen und eine eigene selbstorganisierte Gedenkveranstaltung durchführen müssen? Ein Gedenken ohne die Opfer und Angehörigen zu sehen, ohne sie zu hören, ohne jegliche Empathie für ihren Schmerz – ist kein Gedenken. Ein Gedenken ohne Aufarbeitung, ohne lückenlose Aufklärung – ein Gedenken ohne die Unterstützung der Opfer und Angehörigen, um mit ihren Traumata leben zu können, – ist kein Gedenken. Erinnern bedeutet Verantwortung übernehmen ohne die Opfer und Angehörigen zu überwältigen und ohne sie zu übersehen.

Kein Vergessen. Kein Schlussstrich. Kein Schweigen.

Zum Abschluss noch ein Wort, an alle –, die zu „den Anderen“ gemacht, ausgegrenzt, ungleich behandelt, diskriminiert und rassistisch angegangen werden – weil sie nicht in die Schubladen der „Weißen Überlegenen“, der „Dominanten“, der „Normalen“ passen: Ihr seid einzigartig und wertvoll, so wie ihr seid. Ihr habt ein Recht darauf, euer authentisches Selbst zu sein. Ihr müsst euch nicht verbiegen, um in „imaginäre Schubladen“ zu passen. Lasst euch nicht bevormunden, was eure Heimat sei, das entscheidet nur ihr selbst. Lasst euch auf eurem Lebensweg nicht durch Rassismus und Diskriminierung beirren und verfolgt eure Ziele, ganz gleich ob Bildung, Arbeit, Wohnen oder was auch immer ihr erreichen wollt. Unterstützt und empowert euch gegenseitig, seid füreinander da. Und wenn ihr ihm begegnet, dem hässlichen Gesicht von Rassismus, dann nehmt diesen Rassismus nicht als „normal“ hin, sucht aktiv Hilfe, wenn ihr Unterstützung braucht. Meldet eure Rassismuserfahrungen – z.B. für Muslim*innen bei unserer Meldestelle Marwa, gegen Antimuslimischen Rassismus – und tut euch mit anderen zusammen, sucht euch Verbündete unter jenen, die als privilegiert gelten und keine Rassismuserfahrungen machen müssen – und steht gemeinsam ein – für eine gerechte und solidarische Gesellschaft, in der sich niemand fürchten muss – benachteiligt, beleidigt, bedroht, verletzt oder gar getötet zu werden – nur weil Rassisten der Meinung sind, man gehöre nicht hierher.

Solidarität. Antirassismus. In Gemeinschaft. Füreinander. Miteinander.