Grundsatzpapier der Schura Hamburg

Grundsatzpapier der Schura Hamburg

 

Muslime in einer pluralistischen Gesellschaft

Muslime werden immer wieder nach ihren Positionen zu den Grundwerten der deutschen Gesellschaft befragt. Als seit 1999 bestehender Zusammenschluss der Mehrheit der Moscheen und islamischen Vereine in Hamburg, die Sunniten wie Schiiten und Muslime jeglicher Herkunft umfaßt, haben wir diese Herausforderung angenommen: In einem intensiven innerislamischen Diskussionsprozess unter Einbeziehung aller unserer Mitgliedsvereine einschliesslich auch ihrer theologischen Vertreter haben wir nachfolgendes Grundsatzpapier erarbeitet. Dieses stellt damit einen Konsens der durch SCHURA repräsentierten Muslime Hamburgs dar und ist für diese verbindlich. Wir bemühen uns darin um eine eindeutige Standortbestimmung in wesentlichen Fragen des Verhältnisses von Muslimen zu Staat und Gesellschaft.

Der Islam ist ein Teil der Gesellschaft

Die Existenz einer muslimischen Minderheit ist eine Realität in Deutschland. Wenngleich der Islam in Europa keine neue Erscheinung ist und es in Deutschland schon seit Anfang des letzten Jahrhunderts Muslime gegeben hat, ist die muslimische Minderheit in ihrer heutigen Form ein Ergebnis der Migrationsbewegungen nach dem zweiten Weltkrieg.
Mit 3,2 Millionen Muslimen in Deutschland (in Hamburg sind es ca. 130.000) ist der Islam die drittgrößte Religionsgemeinschaft, seine Präsenz ist gerade in Großstädten wie Hamburg unübersehbar: Moscheen, Frauen in islamischer Kleidung, Geschäfte und Restaurants mit Lebensmitteln nach islamischen Bedürfnissen wie auch eine muslimische Präsenz in Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur sind Teil des alltäglichen Lebens. 500.000 Muslime besitzen bereits die deutsche Staatsangehörigkeit und viele werden sie noch erwerben. Aber auch jene ohne deutschen Pass sehen sich nicht mehr als „Ausländer“, sondern als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes. Sie sind keine Randerscheinung, sondern Teil der Gesellschaft und gestalten diese bereits mit.

Diese Entwicklung hat die deutsche Gesellschaft durchaus verändert. Aber auch die meisten Muslime sind in eine für sie neue gesellschaftliche Situation gekommen, für die es im Islam kaum ein historisches Beispiel gibt: Obwohl im Zuge der Arbeitsmigration aus dem Mittelmeerraum gekommene Muslime die Mehrheit bilden, haben sich im Laufe der Zeit letztlich Muslime aus beinahe der gesamten islamischen Welt hier niedergelassen. Sie haben ihre Sprachen und kulturellen Traditionen mitgebracht und geben zusammen mit den deutschstämmigen Muslimen dem Islam in Deutschland ein sehr vielfältiges Bild. Zusammen bilden sie eine islamische Minderheit in einer Mehrheitsgesellschaft, die historisch wesentlich durch das Christentum geprägt wurde, heute jedoch einen säkularen und pluralistischen Charakter angenommen hat.

Grundgesetz und Islam sind miteinander vereinbar

Diese plurale Gesellschaft besteht aus Menschen unterschiedlicher Religionen und solchen, die keine Religion haben, aus Menschen unterschiedlicher Herkunft und kultureller Identität sowie aus Menschen unterschiedlicher Weltanschauung. Die rechtliche Basis ihres gesellschaftlichen Zusammenlebens ist eine Grundordnung wie sie sich aus dem Grundgesetz mit den Prinzipien der Menschenrechte, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und des Säkularismus ergibt. Diese gewährleisten die Rechte und Freiheiten aller Mitglieder der Gesellschaft.
Für uns Muslime ist gesellschaftliche Vielfalt eine von Gott gewollte und somit positive Erscheinung. Wir bekennen uns vorbehaltlos zu dieser demokratischen Grundordnung und sehen hierin auch keinen Widerspruch zu den Prinzipien und Lehren unseres Glaubens. Als Bürger dieser Gesellschaft, in Anbetracht der Grundsätze der Menschenrechte und Demokratie wie auch der Dynamik des islamischen Rechts und der kollektiven Vernunft, besteht für uns keine Unvereinbarkeit zwischen Grundgesetz und Scharia.
Im Qur´an spricht Gott selbst von der Notwendigkeit von „Schura“, also der politischen Partizipation der Gesellschaftsmitglieder, welche in unserer heutigen Gesellschaft am besten durch einen demokratischen Willensbildungsprozeß zu gewährleisten ist. Es war eine der zentralen Leistungen des Propheten Muhammad (Friede sei mit ihm) in der Stadt Medina einer Gesellschaft in Chaos und Rechtlosigkeit eine Rechtsordnung gegeben zu haben, womit die Schaffung von Rechtsstaatlichkeit ein ursprüngliches Anliegen des Islam ist.
Gott verpflichtet uns zur Erhaltung des Lebens und verbietet uns das Töten. So heißt es im Qur´an: „Wer ein menschliches Wesen tötet, ohne dass es einen Mord begangen oder auf der Erde Unheil gestiftet hat, so ist es, als ob er alle Menschen getötet hätte. Und wer es am Leben erhält, so ist es, als ob er alle Menschen am Leben erhält.“ (5, 32)
Wir Muslime lehnen deshalb auch Gewalt als Mittel der politischen Auseinandersetzung ab. Ein Widerstandsrecht erkennt der Islam im Falle von Unrecht und Unterdrückung an. Ein unter diesen Umständen legitimer Widerstand muß in seinen Mitteln aber maßvoll und wohl abgewogen sein. Gewaltsamer Widerstand ist dabei nur dann erlaubt, wenn zur Befreiung von schwerer Unterdrückung keine andere Möglichkeit verbleibt. So lange jedoch eine verfassungsmäßige Ordnung die Rechte der Menschen gewährleistet, ist der Eintritt dieses Tatbestandes ausgeschlossen.

Somit ist gewaltsamer Widerstand in einer Gesellschaft, die nach Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechten organisiert ist, ohne Legitimation. In so einer Gesellschaft ist jede gesetzwidrige Handlung mit der islamischen Lehre und religiöser Vernunft unvereinbar und muss als eine unislamische zurück gewiesen werden.

Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind von existenzieller Bedeutung

Die Gewährleistung von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ist für uns von existenzieller Bedeutung. Dabei sehen wir auch eine entscheidende Beteiligung von Minderheiten an gesellschaftlichen Willensbildungsprozessen als einen wichtigen Indikator für eine stabile und wahre Demokratie an. Die Muslime sind gerade deshalb dazu aufgerufen, diese zu fördern, zu entwickeln und jederzeit aktiv zu verteidigen.
Wir begreifen diese Notwendigkeit auch vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte: Die nationalsozialistische Diktatur und die Verfolgung und Vernichtung der Juden und anderer Minderheiten haben gezeigt, dass Minderheiten nur dann sicher leben können, wenn der Bestand einer demokratischen Rechtsordnung gewährleistet ist und die Gesellschaft insgesamt unterdrückerischen Ideologien wie Rassismus, Antisemitismus und Islamophobie in jeder Form entschlossen entgegentritt.
Wir Muslime bekennen uns also zu dieser Gesellschaft und ihren Grundwerten. Mit Menschen anderer Religion oder Weltanschauung wünschen wir einen offenen und kritischen Dialog bei gegenseitiger Achtung. Wir streben dadurch ein offenes und bereicherndes Miteinander an, das auch Umorientierungen und Lernzuwachs auf allen Seiten einschließt. Der Islam erachtet ganz grundsätzlich den Dialog mit anderen Religionen und Weltanschauungen als einen Weg zur Entwicklung von Kulturen und Zivilisationen.

Wir wollen unseren Glauben in Verantwortung und Respekt frei praktizieren

Gleichzeitig wollen wir im Rahmen dieser Gesellschaft unseren Glauben und unsere Lebensweise frei praktizieren. Da für uns der Glaube an Gott und die Befolgung seiner Gebote im Mittelpunkt unseres Lebens steht, ist diese Glaubensfreiheit für uns von zentraler Bedeutung. Dies umfasst insbesondere
  • den Bau von Moscheen inklusive dazugehöriger Sozial- und Bildungseinrichtungen im innerstädtischen Bereich bzw. in Wohngebieten mit hohem muslimischem Bevölkerungsanteil;
  • die Erlaubnis zum rituellen Schlachten (Schächten) zur ausreichenden Versorgung der Muslime mit geschächtetem Fleisch sowie zur Ermöglichung des Schächtens am Opferfest;
  • Frauen müssen das Recht haben, sich nach islamischen Vorschriften zu kleiden, auch am Arbeitsplatz und auch im öffentlichen Dienst;
  • die Bestattung der Toten auf muslimischen Friedhöfen oder Gräberfeldern nach islamischen Regeln;
  • die unterrichtliche Behandlung des Islam in allen in Frage kommenden Fächern an den Schulen auch durch muslimische Lehrkräfte, die vorallem auch an deutschen Universitäten auszubilden sind mittels dafür zu schaffender Lehrstühle für islamische Theologie;
  • den Schutz der zentralen islamischen Feiertage;
  • den gleichberechtigter Zugang von Muslimen zu öffentlich-rechtlichen Medien;
  • das Verbot jeder Art von Diskriminierung aus religiösen Gründen.

 

Wir haben eine Pflicht zu gesellschaftlichem Engagement

Religion, so wie wir Muslime sie verstehen, ist nicht nur die Beziehung eines Individuums zu Gott und eine Angelegenheit der Privatsphäre. Die Praktizierung des Glaubens beinhaltet eine islamische Lebensweise und hat somit immer eine gesellschaftliche Dimension.
Auch hat nach islamischem Verständnis der Mensch eine von Gott auferlegte Pflicht zu gesellschaftlicher Verantwortung und gesellschaftlichem Engagement: Der Muslim ist, wie es im Qur´an mehrfach heißt, dadurch gekennzeichnet, dass er „glaubt und gute Werke tut“. Dies umfaßt sowohl die Solidarität zu Glaubensgeschwistern in aller Welt als auch die Verantwortung für die Gesellschaft, in der wir leben. Dieses Engagement kann sich auf unterschiedliche Bereiche erstrecken wie zum Beispiel die Bekämpfung von sozialem Elend und Arbeitslosigkeit, politischer Verfolgung und Unterdrückung, Drogenproblemen und Kriminalität usw.
Da wir hier lebenden Muslime uns als Teil dieser Gesellschaft sehen, wollen wir in diesem Sinne auch an der Gestaltung der Gesellschaft aktiv teilhaben. Es ist ein Engagement für alle Mitglieder dieser Gesellschaft und das Gemeinwesen als Ganzes, nicht partikularistisch orientierte Interessenwahrnehmung für Muslime. So sehen wir Muslime auch unser religiös motiviertes politisches Engagement. Dabei lassen wir uns von zentralen Werten unseres Glaubens leiten:
  • Gerechtigkeit ist für Muslime das zentrale Kriterium jeder Sozial- und Wirtschaftsordnung, deren Ziel es sein muss, zu allererst jedem einzelnen Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen.
  • Die Bewahrung der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen, die auf der göttlichen Schöpfung beruhen, hat Vorrang vor anderen Interessen. Aus Verantwortung für die nächsten Generationen unterstützen wir alle Maßnahmen, die eine nachhaltige Entwicklung fördern.
  • Der Mensch ist nach islamischer Sicht ein gesellschaftliches Wesen und seine gemeinschaftlichen Bindungen, insbesondere die Familie, genießen besonderen Schutz und besondere Förderung.
  • Die Frau und der Mann sind vor Gott und dem Gesetz gleich gestellt. Wir stellen uns gegen jede Instrumentalisierung der Frauenfrage egal durch wen. Die Zukunft der muslimischen Frau ist selbstbestimmt, frei und solidarisch mit allen Frauen.
  • Schutz des Rechtes aller Individuen und gesellschaftlichen Gruppen, frei von Unterdrückung, Bedrohung und dem Mißbrauch staatlicher Gewalt zu leben.

 

Wir erhoffen eine konstruktive Auseinandersetzung

Wir haben mit diesem Grundsatzpapier dargelegt, dass es aus unserer Sicht gemeinsame Werte gibt, auf deren Basis sich ein gleichberechtigtes Zusammenleben mit der Mehrheitsgesellschaft verwirklichen lässt. Wir erhoffen uns, dass dieses Diskussionsangebot auf breites Interesse stösst und Ausgangspunkt wird für eine intensivere konstruktive Auseinandersetzung.
Beschlossen auf der Mitgliederversammlung vom 18.04.2004, Hicret-Moschee