Eröffnungsrede des Vorsitzenden der SCHURA zur Konferenz „In der Gesellschaft wirken – Muslime als zivilgesellschaftliche Akteure“

img_20160131_224236-1Im Namen von SCHURA Hamburg möchte ich Sie ganz herzlich zu unserer diesjährigen Tagung begrüßen, die nun in dieser Form – organisiert und veranstaltet von SCHURA Hamburg und dem Islamischen Zentrum – zum sechsten Mal stattfindet.Wie in den Jahren zuvor möchten wir eine Plattform bieten, auf der Muslime unterschiedlicher Rechtsschulen und Strömungen gemeinsam über ein wichtiges aktuelles und für die Zukunft des Islam in Deutschland bedeutsames Thema diskutieren. Heute möchten wir über den Islam als Faktor der Zivilgesellschaft in Deutschland sprechen.

Wenn wir feststellen, dass der Islam ein Teil der Gesellschaft ist und er zu Deutschland gehört, dann stellt sich eigentlich ganz automatisch die Frage, welche Rolle Muslime als zivilgesellschaftliche Akteure spielen. Tatsächlich aber ist dieser Blickwinkel unterbelichtet. Die Debatte um Islam und Muslime scheint vollkommen fokussiert zu sein auf Fragen von Sicherheit und Integration und weist dabei eine staatszentrierte Perspektive auf. Diese Art der Debatte zwingt Muslime immer wieder in einen Rechtfertigungsdiskurs, wo sie sich genötigt sehen, rein defensiv auf von anderen vorgegebene Themen und Fragestellungen reagieren zu müssen.

Überzeugender als über Distanzierungsrituale kann ich als Muslim meine Verortung in dieser Gesellschaft durch praktisches Engagement bei Lösung ihrer existenziellen Probleme zeigen. Wir Muslime sollen uns daher fragen, welchen gesellschaftlichen Beitrag wir aus unserer Religion heraus leisten können. Was sagt der Islam zu gesellschaftlichen Entwicklungen wie der immer größeren sozialen Ungleichheit oder dem demographischen Wandel? Welches ethisch-moralische Konzept kann ich als Muslim in wirtschaftlichen Fragen als Alternative anbieten? Wie können wir uns Muslime auch auf Feldern engagieren, für die wir bisher keinen Zugang hatten wie Wohlfahrtspflege?

Vielen von uns ist auch zu wenig bewusst, dass wir Muslime hier auf einen reichhaltigen Fundus aus unserer traditionsreichen Geschichte zurückgreifen können. Traditionell war die Moschee der Ort, der das gemeinschaftliche Leben der Muslime prägt. Sie ist das schlagende Herz des Stadtteils. Moscheen sind nicht nur Gebetsräume, sondern in der Geschichte immer lokale Einrichtungen gewesen, die sowohl Muslimen als auch Nichtmuslimen bestimmte Dienstleistungen angeboten haben. Rund um den Gebetsraum fanden sich im Moscheekomplex Stiftungen, Schulen, Märkte, Bibliotheken, Armenküchen, medizinische und karitative Einrichtungen. Sie waren Zentren einer lebendigen muslimischen Zivilgesellschaft mit spirituellen, sozialen und vor allem ökonomischen Komponenten. In den politischen Umbrüchen der letzten beiden Jahrhunderte ist davon viel verloren gegangen. Wenn aktuell immer wieder davon die Rede ist, dass der Staat und seine Institutionen versagen – und das eben nicht nur in der islamischen Welt so – dann ist es schon wichtig, sich diese Tradition ins Bewusstsein zu rufen.

Der aktuelle Hintergrund, sich mit Fragen des zivilgesellschaftlichen Engagements aus muslimischer Sicht zu beschäftigen, ist natürlich die gesellschaftliche Herausforderung der in großer Zahl hierher kommenden Flüchtlinge. „Flüchtlinge sind willkommen“ ist für uns Muslime immer eine prinzipielle Haltung gewesen. Daher hat nicht einmal die Aufnahme von über zwei Millionen Flüchtlingen z.B. in der Türkei solch eine Untergangsstimmung dort verursacht wie die wesentlich geringere Anzahl von Flüchtlingen, die der wohlhabende Kontinent Europa insgesamt aufgenommen hat. Menschen, die vor Krieg, Not und Elend fliehen, abzuweisen, Zäune und Mauern zu errichten, sie gar im Meer ertrinken zu lassen, ist religiös und menschlich nicht denkbar.

Unser Prophet – Friede sei mit ihm – und die ersten Muslime mussten ihre Heimatstadt Mekka verlassen und in der Fremde einen Neuanfang in Medina wagen. Dort gingen die mekkanischen Auswanderer und die bisherigen Einwohner der Stadt eine Verbindung ein, aus der schließlich eine neue Gesellschaft entstand, was im übrigen wie wir wissen nicht immer konfliktfrei ablief. Es ist aber das beste Beispiel aus unserer, islamischen Geschichte, was zeigt, welch positives Potential Migration hat, wenn es gesellschaftlich konstruktiv aufgenommen wird. Flucht und Migration haben solch einen hohen Stellenwert im Islam, dass damit der Beginn der islamischen Zeitrechnung anfing.

Auch wenn es in der Öffentlichkeit viel zu wenig wahrgenommen wurde: Bei der Hilfe für Flüchtlinge haben viele unserer Hamburger Moscheegemeinden erhebliches geleistet: Beispielhaft möchte ich die Rahma-Moschee nennen, die im Übrigen eine unserer ärmsten ist. Als vor fast drei Jahren Lampedusa-Flüchtlinge nach Hamburg kamen, wurden sie in der Moschee aufgenommen und unterstützt. Und natürlich muss die Nour-Moschee erwähnt werden, die seit dem letzten Sommer Abend für Abend ihre Türen für Hunderte von durchreisenden Flüchtlingen geöffnet hat. Auch außerhalb der Gemeinden haben sich viele Muslime in vielfältiger Weise ehrenamtlich für Flüchtlinge engagiert.

Dabei stehen wir in einem Dilemma: Einerseits sollen wir den hären Grundsatz nicht verlassen, bescheiden zu sein und mit guten nicht Taten zu prahlen. Andererseits hat das altruistische und selbstlose Engagement vieler Moscheen sie an den Rand des Ruins gebracht. Deshalb sind wir dazu übergegangen, laut um Hilfe zu schreien, um an die Töpfe zu kommen, die der Staat den Trägern der freien Wohlfahrtspflege offeriert hat. Dabei hat sich das türkische Sprichwort bewährt: „Wer nicht weiß, wie man weint, der bekommt auch keinen Schnuller!“. So konnte zumindest die größte Not gelindert werden.

Dieses Engagement ist für uns Muslime wie für die Gesamtgesellschaft eine positive Erfahrung, weil es eingebunden ist in eine vielfältige zivilgesellschaftliche Struktur, die sich zur Unterstützung von Flüchtlingen gebildet hat. Für all diese Menschen war Willkommenskultur nicht nur ein Wort, sondern Ausdruck praktischen Handelns.

Wir wissen aber, dass dies nur eine Seite der gesellschaftlichen Wirklichkeit ist. Ebenso erleben wir ein Anwachsen von Rassismus und Islamfeindlichkeit, von Hass und Anfeindungen bis zu gewaltsamen Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Moscheen. Hier bedarf es einer vielfältigen antifaschistischen Zivilgesellschaft, die sich dem entgegen stellt – etwa wie es im letzten September an die 20.000 Hamburgerinnen und Hamburger gemacht haben, als Rechtsradikale hier aufmarschieren wollten. Auch wir Muslime waren aktiv daran beteiligt und das gemeinsame Handeln mit anderen Menschen unterschiedlichster politischer und religiöser Herkunft war eine wichtige Erfahrung.

In den Moscheegemeinden erleben wir zur Zeit aber auch die Grenzen unseres ehrenamtlichen Engagements in räumlicher, personeller und finanzieller Hinsicht. Viel guter Wille und persönlicher Einsatz allein reichen nicht. Wir müssen über neue Strukturen unserer sozialen Arbeit nachdenken. Wollen wir Strukturen innerhalb eines bestehenden Wohlverbandes schaffen? Brauchen wir einen islamischen Wohlfahrtsverband? Und wie kommen wir dahin? Auch hierüber müssen wir diskutieren.

Neben dem sozialen Sektor gibt es weitere Bereiche, in denen sich Muslime zivilgesellschaftlich engagieren und eigene Projekte gestartet haben. Medienprojekte haben hier eine besondere Relevanz. Sie können eine Vielfalt muslimischer Stimmen sowohl intern wie auch nach außen darstellen; sie sind Foren für Informationsaustausch und die relevanten islamischen Diskussionsprozesse.

Es gibt weitere Bereiche mit islamischen Projekten wie Jugend, Frauen, Umweltschutz, Friedensarbeit und andere, die wir hier nicht alle darstellen können. Gemeinsam ist ihnen allen eine Verortung in dieser Gesellschaft. Und im praktischen Handeln stellt sich die islamische Einheit quasi von alleine her. Wenn wir uns etwa für Flüchtlinge engagieren, spielt es keine Rolle, ob wir Sunniten oder Schiiten, Türken, Kurden oder Araber sind. Einheit bedarf hier keiner theoretischen Konstrukte und theologischen Herleitungen, ganz einfach weil sie praktisch erfahrbar wird.

Diese beiden Punkte – die Orientierung auf die Gesellschaft, in der wir leben, und die praktische Erfahrung von Gemeinsamkeit – sind wichtige Bausteine für einen positiv verstandenen Islam in Deutschland ohne Spaltung und Extremismus.

Dabei lassen wir uns leiten von dem prophetischen Grundsatz und Lebensmotto: „Der Beste unter euch ist derjenige, der anderen am dienlichsten ist!“
In diesem Sinne wünsche ich uns allen eine erfolgreiche Tagung. Vielen Dank!